GRIN - Jean Piaget ´s Stufentheorie der moralischen Entwicklung (2023)

Gliederung

1. Einleitung

2. Philosophischer Hintergrund

3. Kurzer Vergleich: „cognitive development approach“ und „social learning approach“

4. Piagets Grundannahmen und seine Untersuchungen

5. Zum Begriff der „Invarianz“

6. Die 3 Stufen
6.1. „Moralischer Realismus“
6.2. „Kooperativer Gerechtigkeitssinn“
6.3. „Bewusstsein autonomer Gerechtigkeit“

7. Einordnung in Piagets Gesamtwerk aus epistemologischer Sicht

8. Zur Kritik an der Stufentheorie

9. Wie sollte Piagets Theorie kritisiert werden?

10. Fazit

11. Verzeichnis der verwendeten Literatur

1. Einleitung

Mit der vorliegenden Hausarbeit möchte ich den Versuch unternehmen mich mit der Bedeutung von J. Piagets Werk auseinanderzusetzen. Dies soll exemplarisch an seiner Theorie der Stufen der moralischen Entwicklung beim Kinde geschehen.

Ausgehend von seinem Bezug zur Philosophie Kants einerseits und einem kurzen Vergleich seiner Theorierichtung mit konkurrierenden Ansätzen andererseits, werde ich dann Piagets Untersuchungen und die daraus von ihm gezogenen Schlüsse erläutern.

Sodann werde ich, mittels Piagets eigenem Anspruch an die Aussagefähigkeit seiner Theorie, mich mit der Angemessenheit wesentlicher Kritikpunkte an Piagets Theorie auseinandersetzen.

Im Resümee will ich aufzeigen, dass Piaget versucht hat nachzuweisen „was sein kann“ und daher die Kritik ins Leere geht, dass seine Untersuchungsergebnisse empirisch nicht durchgängig zu bestätigen sind. Anstatt dessen möchte ich abschließend auf Divergenzen von Piagets Untersuchungen mit denen anderer aufmerksam machen, die nahelegen, dass sein Stufenmodell aus seinem eigenen Anspruch heraus möglicherweise nicht haltbar ist.

2. Philosophischer Hintergrund

Befasst man sich mit Piagets Theorie der Stufen der moralischen Entwicklung, so wird man in den einschlägigen Quellen stets darauf verwiesen, dass Piagets Moralvorstellung auf den Begriffen von Moral, wie sie in der Philosophie bei Kant, Fichte und Schelling geprägt wurden, fußt1. Ohne an dieser Stelle vertiefend auf diese Philosophen einzugehen, sei soviel gesagt, als dass, insbesondere bei Fichte, von einem sich selbst bestimmenden Subjekt ausgegangen wird.2

Bei aller Würdigung und zentralen Betrachtung des sich selbstbestimmenden Subjektes, sei aber darauf hingewiesen, dass Kant keineswegs auf vereinfachende Weise die Sinnerfüllung des Einzelnen im Glück des Einzelnen oder der Gemeinschaft sieht. Vielmehr ist es so, dass Kant seine Vorstellungen von der Sinnhaftigkeit des Daseins in Formeln münden lässt, die er als Pflichten verfasst hat3. Die bekannteste Formel bzw. Pflicht ist Kants „kategorischer Imperativ“, in dem geschrieben steht wie der Mensch handeln soll: „Handle so, dass die Maxime Deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzmäßigkeit gelten könne.“4„Handle so, dass Du die Menschheit, sowohl in Deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst!“5 Diese philosophische Sichtweise unterscheidet sich wesentlich von der Sichtweise einerseits, dass das Individuum grundsätzlich nur durch die Sozialisationsbedingungen in jede denkbare Form geprägt werden kann (Tabula-rasa-Position) und andererseits von der Sichtweise, dass der unterstellten negativen Triebhaftigkeit des Einzelnen von außen gegengesteuert werden muss.(Original-sin-Position)6 Bei aller Unterschiedlichkeit der Theorierichtungen in ihrem Ursprung, beinhalten diese allerdings einige Übereinstimmungen, wenn auch jeweils unterschiedlich gewichtet.7

3. Kurzer Vergleich: „cognitive development approach“ und „social learning approach“

Diese 3 philosophisch-theoretischen Paradigmen, Tabula-rasa-P., Original-sin-P. und Innate- purity-P., begründen in der Erforschung des moralischen Verhaltens zwei Hauptrichtungen, die aufgrund ihrer Verschiedenheit in der o.g. Gewichtung bei der Betrachtung des Menschen oftmals auch sehr verschiedene Methoden der Forschung bedingen. So ist für die Methodik des von Piaget mitentwickelten „cognitive development approach“ die Form des Interviews typisch, wohingegen für die aus den beiden anderen Paradigmen abgeleitete Methodik des „social learning approach“, die also beispielsweise die Lerntheorie und die Psychoanalyse wesentlich miteinschließt, eher das Laboratoriumsexperiment, weniger oft auch die Feldstudie, typisch ist.8(Dies sollte stets berücksichtigt werden, wenn man die Ergebnisse beider Forschungsrichtungen einigermaßen angemessen miteinander vergleichen möchte.)

4. Piagets Grundannahmen und seine Untersuchungen

Piaget geht davon aus, dass um moralisches Verhalten beurteilen zu können dem Kind eine gewisse Lernfähigkeit, also kognitive Struktur, zueigen sein muss. Nur in zweiter Linie sind bei ihm die von außen auf das Kind einwirkenden sozialen Zusammenhänge für das Kind prägend. So steht denn auch im Mittelpunkt seiner Forschung die Frage nach welchen Gesetzmäßigkeiten und in welcher Abfolge das Erlernen moralischer Vorstellungen beim Kind erfolgt. (Erlernen ist hier also im Sinne kognitiver Aneignung verstanden, im Gegensatz zu konditionierter Verhaltensaneignung, die ja ebenfalls im Sinne von Lernen begriffen werden kann.) Die Verinnerlichung bzw. Interiorisierung gesellschaftlich gesetzter moralischer Standards leugnet Piaget nicht, sieht sich aber durch seine Forschungen darin bestätigt, dass dieser Prozess im Einklang mit der kognitiven Entwicklung des Kindes erst in einem fortgeschritteneren Stadium geschieht.

Zunächst seien aber die Untersuchungen kurz erläutert, derer sich Piaget bediente, um zu dem anschließend, in Form eines 3-Stufenmodells dargestellten, Forschungsergebnisses zu gelangen.

Erstens untersuchte er die Einstellung des Kindes zu den Regeln des Murmelspiels in bezug auf deren Ursprung, Änderbarkeit und Anerkennung. Das Murmelspiel war deshalb von Interesse für ihn, da dessen Regeln seines Erachtens von Kindern entwickelt und von Kindern an Kinder weitergegeben werden.9

Zweitens wertete er die moralischen Urteile von Kindern aus, denen Geschichten erzählt wurden in denen jemand objektiv gegen moralische Standards verstoßen hatte.10In diesen Geschichten waren allerdings die Gründe für die Verstöße verschieden.

5. Zum Begriff der Invarianz

Die 3 Stufen in denen sich das moralische Bewusstsein des Kindes entwickelt bauen lt. Piaget zwingend aufeinander auf. Demzufolge hält er eine Abweichung derart, dass sich ein Aspekt der Moralbewusstseinsentwicklung der 3. Stufe bspw. bereits während der 1. oder 2. Stufe vollziehen und auf Dauer etablieren kann, für ausgeschlossen. Dieses wird bei ihm als „Invarianz“ bezeichnet.

6. Die 3 Stufen

Zwar sieht Piaget den Keim des Moralischen bereits in der vorsprachlichen Phase veranlagt, es äußert sich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht in der Handlungsweise des Kindes. In dem Sinn also, dass moralisches Bewusstsein immer auch eine Einheit von Denken und Handeln ist, setzt die Entwicklung des moralischen Bewusstseins für ihn erst mit der Entstehung der Sprache ein.

6.1.Moralischer Realismus

Die 1. Stufe ist dadurch gekennzeichnet, dass das Kind Verhaltensweisen als absolut falsch oder richtig einschätzt. Das Kind fühlt sich den Regeln verpflichtet, weil sie von ihm als unveränderlich betrachtet werden. Die Beurteilung einer Handlung erfolgt ausschließlich danach, welche Konsequenzen das Handeln nach sich zieht. Das Kind ist von der zwangsläufigen Konsequenz / Strafe bei Fehlverhalten überzeugt. Um zu seinem Urteil zu gelangen setzt das Kind auf dieser Stufe das Handeln nicht ins Verhältnis zur Motivation des Handelnden. Diese Stufe beginnt mit dem Erlernen der Sprache und etwa im 3./4. Lebensjahr ist das Kind lt. Piaget mit Regeln „gesättigt“.11Allerdings nicht in dem umgangssprachlichen Sinne, dass es die Regeln satt hat, sondern in dem Sinn, dass es seiner Entwicklungsstufe entsprechend alle Regeln ausreichend verinnerlicht (interiorisiert) hat. Eine Moralbewusstseinsentwicklung, die wesentlich aus der Interaktion mit Gleichaltrigen herrührt kann Piaget noch nicht feststellen.

6.2.Kooperativer Gerechtigkeitssinn

Die 2. Stufe ist lt. Piaget davon geprägt, dass sich einerseits die Unterordnung unter die elterliche Gewalt lockert und andererseits die Beziehungen und gemeinsamen Aktivitäten mit anderen Kindern deutlich stärker in den Vordergrund treten. Gerade diese Interaktion mit Gleichaltrigen hat für ihn besondere Bedeutung, weil sie die Entwicklung eigener Entscheidungsfindung verstärkt. Ebenso entwickelt sich das Verständnis für das Verhalten Anderer zunehmend. Die Denkstruktur des Kindes ist in dieser Phase bereits soweit entwickelt, dass es Handlungen beginnt auch als umkehrbar zu verstehen und bereits in der Lage ist begrenzt zu relativieren. Diese Begrenzung drückt sich u.a. darin aus, dass das Kind noch in Objekten, nicht aber in Hypothesen, zu denken in der Lage ist. Piaget siedelt diese Stufe bei den von ihm untersuchten Kindern im Alter von ca. 7 bis ca. 11 Jahren an.

6.3.Bewußtsein autonomer Gerechtigkeit

Auf der dritten Stufe beginnt das Kind zu verstehen, dass die Ansichten über „gut“ und „böse“ verschieden sein können. Die Regeln werden als veränderbare Konventionen begriffen und der Glaube an zwangsläufige Konsequenzen aus Regelverstößen schwindet. Ebenso beachtet es nun beispielsweise auch die Täuschungsabsicht, um zu einem Urteil zu gelangen. Altersmäßig ist diese Stufe bis zu ca. 14 Jahren bei den untersuchten Kindern anzusiedeln.

7. Einordnung in Piagets Gesamtwerk aus epistemologischer Sicht

Piagets Theorie der Stufen der moralischen Entwicklung ist nur eine Teiltheorie. Ebenso wie seine Forschungen zu anderen Aspekten der geistigen und kognitiven Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen war sein wissenschaftlicher Anspruch nicht der, etwa eine pädagogische Theorierichtung entwickeln zu wollen. Ihm ging es darum, für die Wissenschaftstheorie und die Entwicklungspsychologie verallgemeinerbare Erklärungen zu erarbeiten, in welcher Stufenfolge sich grundsätzlich menschlicher Geist entwickelt. Bei dem intensiven Bezug den Piaget zur Philosophie Immanuel Kants hatte, ist davon auszugehen, dass dort auch der Grund dafür zu finden ist, warum Piaget die Entwicklung des moralischen Bewusstseins bei der Untersuchung der Entwicklung des menschlichen Geistes im Allgemeinen miteinbezogen hatte. Denn bei allen Untersuchungen hatte Piaget zentral das Augenmerk immer darauf gerichtet, welche Achtung den jeweils entsprechenden Regeln entgegengebracht wurde. Dazu schreibt Kant: „Achtung ist zwar ein Gefühl, aber durch einen Vernunftbegriff geweckt, und unterscheidet sich daher spezifisch von allen Gefühlen, die auf Neigung oder Furcht beruhen und für die Sittlichkeit keine Bedeutung haben.“12

8. Zur Kritik an der Stufentheorie

Von vielen Wissenschaftlern der verschiedensten Disziplinen wurde und wird Piagets Entwicklungstheorie kritisiert. So z.B. von Pädagogen, Sonderpädagogen, Psychologen und kulturvergleichenden Forschern. Die Kritik bezieht sich in der Hauptsache auf die Invarianz der Stufenentwicklung. Außerdem erscheint es befremdlich, ob die Entwicklung des menschlichen Bewusstseins sich lediglich in 3 oder 4 Stufen erfassen lässt.13 Vorweg sei bereits bemerkt: Piaget hat nie die Auffassung vertreten, dass seine Theorie der invarianten Stufenabfolge sich 1:1 auf eine konkret angewandte Wissenschaft übertragen lässt. So schreibt er beispielsweise bei dem Versuch die Gesamtprozesse bei der Entwicklung des Regelbegriffes zu bestimmen: „... so möge ein für allemal festgestellt sein, dass es sich dabei um künstliche Notwendigkeit der Analyse und nicht um objektive Resultate handelt.“ An anderer Stelle führt er ferner aus: „Selbst bei den Erwachsenen unterwirft der vernünftigste Mensch nur einen winzig kleinen Teil der ihn beschränkenden Regeln seiner „ethischen“ Erfahrung: So sehr auch Descartes gewünscht haben mag aus seiner „provisorischen Moral“ herauszutreten, er ist ihr doch sein ganzes Leben treu geblieben.“

Zum dem Kritikpunkt der zu „groben“ Stufung: Kohlberg hat ausgehend von Piagets Stufenmodell dieses weiterentwickelt und feiner gestuft.14 Das nun von ihm entwickelte Modell der 3 Ebenen mit je 2 Unterstufen hat einen durchaus brauchbaren Ansatz in der konkreten Anwendung der Schulpädagogik geliefert. Freilich sah sich auch Kohlberg gezwungen das Ideal einer Stufe des höchsten moralischen Bewusstseins zu definieren, nämlich die Kernaussage des Kategorischen Imperativs.

Die Linie Kant - Piaget - Kohlberg - und Kohlbergs durchaus bemerkenswerte Erfolge in der Pädagogik, ist ein exzellentes Beispiel. Nämlich dafür, wie es möglich ist von der ausgesprochen abstrakten Ebene der Philosophie, hin zu konkret verbesserten Bedingungen für die Entwicklung von Individuen zu gelangen.

Zum Kritikpunkt der nicht durchgängig bestätigbaren Invarianz:

In zahlreichen Untersuchungen konnte in der Tat nachgewiesen werden, dass die Entwicklung moralischen Bewusstseins, als auch die kognitive und geistige Entwicklung insgesamt, in verschiedenster Weise anders zu beobachten ist, als es von Piagets Theorie behauptet wird15. Aus diesem Grund ist es unerlässlich einen näheren Blick darauf zu werfen, wo Piaget einerseits und seine Kritiker andererseits ihre Untersuchungen durchgeführt haben. Piaget untersuchte zumeist Kinder in Genf und Neuchatel, also in einem sozioökonomisch verhältnismäßig stark privilegierten Teil der Welt. Die Untersuchungen der kulturvergleichenden Forschung fanden ausgesprochen oft unter Völkern oder Volksgruppen statt, deren äußere Lebens- und Entwicklungsbedingungen sich von denen der allgemeinen Bedingungen der Schweiz deutlich unterschieden.

Bei US-amerikanischen Indianerstämmen wurde beispielsweise festgestellt, dass mit steigendem Alter ein zunehmender Glaube an die sog. „immanente“ Gerechtigkeit, ein Moralbewusstsein der ersten Stufe, anzutreffen ist.16Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass in Nordamerika einerseits zwar gewisse Mindeststandards, z.B. die allgemeine Schulpflicht, die Entwicklung von Kindern bis zu einem gewissen Maß für alle Bevölkerungsschichten garantieren, andererseits Jugendliche und Erwachsene unter der indianischen Bevölkerung aus verschiedenen Gründen durchschnittlich weitaus schlechtere Entfaltungsmöglichkeiten als die Masse der weißen Bevölkerung haben, ist folgendes als sehr wahrscheinlich anzunehmen:

Findet sich ein Mensch, nachdem er bereits eine gewisse Entwicklung durchlaufen hat, in existenziellen Auseinandersetzungen wieder, die sich im Extremfall um Sein oder Nichtsein drehen, so wird sein Moralbewusstsein wohl auch wieder ein sehr elementares werden. Die vielleicht einmal erworbene Fähigkeit zu größerer Reflexion, kann sich dann auch durchaus wieder zurückentwickeln.

9. Wie sollte Piagets Theorie kritisiert werden?

Es ist augenfällig, dass Piaget unter bestmöglichen Bedingungen versucht hat nachzuweisen, wie sich grundsätzlich moralisches Bewusstsein entwickeln kann, um zu dem seiner Meinung nach, höchsten Niveau zu gelangen. Dieser Versuch des Nachweises steht nicht im Widerspruch dazu, dass real durchaus auch festgestellt werden kann, dass das Moralbewusstsein in der o.g. Stufenabfolge auch zurückschreiten kann. Aus dieser Perspektive sollte sich die Kritik also nicht an Piagets Theorie als solcher entzünden, sondern vielmehr an möglichen Versuchen diese in vereinfachter Form auf die pädagogische Praxis zu übertragen.

Wie bereits erläutert, war Piagets wissenschaftlicher Anspruch eindeutig erkenntnistheoretischer Natur. Deswegen sollte der Frage nachgegangen werden, ob er aus seinen Untersuchungen die richtigen epistemologischen Schlüsse gezogen hat, bzw. ob seine Untersuchungen ausreichend waren, um derartige Schlüsse zu ziehen.

Wir erinnern uns, dass Piaget der wachsenden Kooperationsfähigkeit in der 2. Stufe größte Bedeutung beimisst, wohingegen er diese in der 1. Stufe nicht oder nur sehr gering wahrnimmt. Nun schreibt aber der Sonderpädagoge Begemann:

„Elsa Köhler untersuchte in den 20er Jahren in einer Längsschnittstudie Kinder im Kindergarten in Jena. Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse lässt sich pointiert verkürzt so beschreiben: Die Kinder arbeiten nicht allein mit Materialien, sondern nur in der Gruppe.

Etwa zur gleichen Zeit untersucht Jean Piaget mit ähnlichen Methoden der Erfassung und Auswertung gleichaltrige Kinder im Genfer Kindergarten. Sein „paralleles“ Ergebnis heißt verkürzt pointiert: Kinder im Kindergartenalter arbeiten gern einzeln und intensiv mit Materialien. Sie können oder wollen dabei offensichtlich nicht kooperieren. Die gegensätzlichen Ergebnisse lassen sich nicht als Untersuchungsfehler, nicht als Ausweis kultureller Unterschiede des französisch sprechenden Genf und des deutsch sprechenden Jena interpretieren. Die Erklärung ist einfach: Der Kindergarten in Jena wurde nach Gesichtspunkten von Peter Petersen bzw. Friedrich Fröbel geführt, der großen Wert auf Kooperation, Gruppe und Gemeinschaft legt. Der Kindergarten in Genf war als Montessori- Modell konzipiert und mit den entsprechenden Materialien ausgestattet. Die Psychologen haben „herausgefunden“, was die Pädagogen „hineingesteckt“ haben. Beide Untersucher haben keine allgemeinen Wahrheiten über Kinder im 3. bis 6. Lebensjahr entdeckt.“17

10. Fazit

Bemerkenswert an Begemanns Einschätzung ist m.E., dass in Jena möglicherweise bereits im Altersabschnitt der 1. Piagetstufe ein Moralbewusstsein vorhanden war, wie es Piaget eigentlich erst als typisch für die 2. Stufe charakterisiert hat. Wenn dem aber so ist bzw. war, dann würde das bedeuten, dass der Mensch unter gegebenen Umständen bereits zu einem deutlich früheren Zeitpunkt, als es Piaget behauptet hat, zu einem verhältnismäßig hohen Niveau des Moralbewusstseins gelangen kann. Dem würde sich die Frage anschließen, ob die nachfolgenden Stufen dann etwa auch früher angesetzt werden könnten. Unter diesen Umständen müsste Piagets Theorie neu geschrieben werden.

11. Verzeichnis der verwendeten Literatur

1. Hartmut Kasten; Die Entwicklung von Moralvorstellungen und Moralbegriffen beim Kinde; Donauwörth 1976

2. Alois Halder/ Max Müller (Hrsg.); Philosophisches Wörterbuch; Freiburg i.B. 1993

3. Max Heinze (Hrsg.); Grundriss der Geschichte der Philosophie Bd.III; Berlin 1907

4. Jürgen Habermas; Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus; Frankfurt/M. 1976

5. Jean Piaget; Das moralische Urteil beim Kinde; Zürich 1954

6. Traugott Schöfthaler/ Dietrich Goldschmidt (Hrsg.); Soziale Struktur und Vernunft -

Jean Piagets Modell entwickelten Denkens in der Diskussion kulturvergleichender Forschung; Frankfurt a.M. 1984

7. Ernst Begemann; Piaget, Normal-Entwicklung, individuelle Entwicklung -

Überlegungen und Bilanzierung für („Sonder“-)Schulen und Pädagogen; Erschienen in: Behinderte in Familie, Schule, und Gesellschaft Nr. 3/98; Graz; Wiederveröffentlichung im Internet:

http://bidok.uibk.ac.at/texte/beh3-98-piaget.html

[...]

1Hartmut Kasten; Die Entwicklung von Moralvorstellungen und Moralbegriffen beim Kinde; Donauwörth 1976 S.: 9

2Alois Halder / Max Müller (Hrsg.); Philosophisches Wörterbuch; Freiburg 1993; S.: 90

3 Max Heinze; Geschichte der Philosophie Bd.III; Berlin 1907; S.: 368

4ebenda S.361

5ebenda S.368

6Vgl.: H. Kasten; Die Entwicklung von Moralvorstellungen (...); Donauwörth 1976; S. 9

7Vgl.: J. Habermas; Moralentwicklung und Ich-Identität. In: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus; Frankfurt/M. 1976 S.67-82

8 Vgl.: H. Kasten; Die Entwicklung von Moralvorstellungen(...); Donauwörth 1976; S.14

9Jean Piaget; Das moralische Urteil beim Kinde; Zürich 1954 S.7ff

10 ebenda S.133ff

11 ebenda S.94

12Max Heinze; Geschichte der Philosophie Bd.III; Berlin 1907 S.369

13Die kognitive Entwicklung teilt Piaget insgesamt in 4 Stufen ein.(R.D.)

14 H.Kasten; Die Entwicklung von Moralvorstellungen(...); Donauwörth 1976 S.69ff

15Traugott Schöfthaler/ Dietrich Goldschmidt (Hrsg.); Soziale Struktur und Vernunft; Frankfurt a.M. 1984 S.75

16 H. Kasten; Die Entwicklung von Moralvorstellungen(...); Donauwörth 1976 S. 67

17 Ernst Begemann; Piaget, Normal-Entwicklung, individuelle Entwicklung - Überlegungen und Bilanzierung für („Sonder“-)Schulen und Pädagogen; erschienen in: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft Nr. 3/98

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Author: Greg O'Connell

Last Updated: 03/04/2023

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