Basics | Monika Keller: Moralentwicklung und moralische Sozialisation (2023)

„Die Moral des Kindes erhellt auf eine Weise die Moral des Menschen. Wenn man daher Menschen bilden will, so ist nichts nützlicher als das Studium der Gesetze ihrer Entwicklung.“

Jean Piaget (1932). Das moralische Urteil beim Kinde. Aktuell verlegt bei Klett-Cotta.

Die Entwicklungspsychologin Monika Keller ist eine der herausragenden Expert*innen im Feld der Forschung zur sozial-moralischen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen im Kontext der Piaget-Kohlberg-Tradition seit den 1970er Jahren. Sie arbeitet bis heute zu folgenden Fragen am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung und an der Freien Universität Berlin:

  • Kognitive und affektive Aspekte sozial-kognitiver und moralischer Entwicklung im kulturellen Kontext
  • Perspektivenübernahme, „theory of mind“ und Domänen des sozialen und moralischen Denkens
  • Soziale Rationalität: Entscheidungsprozesse im ökonomischen Kontext
  • Soziale, moralische und demokratische Kompetenzen in Erziehungsprozessen (Kindergarten und Schule)

Im Folgenden wird ein Überblick gegeben zu Monika Kellers Text „Moralentwicklung und moralische Sozialisation“(2005); ferner werden Beispiele aus ihrer Forschung präsentiert, die für unterrichtliche Zwecke verwendet werden können.

Reflexion des kognitiv-konstruktivistischen Ansatz Lawrence Kohlbergs im Anschluss an Jean Piaget

In ihrem Beitrag „Moralentwicklung und moralische Sozialisation“ (in: Detlef Horster, Jürgen Oelkers (Hrsg.) Pädagogik und Ethik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 149–-172) nimmt Monika Keller zunächst eine historische Einordnung zum kognitiv-konstruktivistischen Ansatz im Blick auf die Moralentwicklung bei Jean Piaget und Lawrence Kohlberg vor:

Kohlbergs […] Ansatz der Moralentwicklung [..] gründete auf den Arbeiten des Schweizer Psychologen Jean Piaget (1932/1973), dessen kognitiver Ansatz der Moralforschung in der philosophischen Tradition von Kant auch heute noch bedeutsam ist. Im Mittelpunkt dieser Theorie steht […] der denkende und interpretierende Mensch. Dieser Mensch wird nicht als das blinde Produkt von Verstärkungsprozessen oder als Resultat widerstreitender Triebenergien verstanden, sondern als ein Wesen, das seine Vernunft einsetzen kann und sein Handeln unter Berufung auf die Gründe rechtfertigt. Diese Gründe müssen, wenn sie moralisch gültig sein sollen, für alle Menschen gelten, also universalisierbar sein. In der philosophischen Tradition Kants nimmt Kohlberg eine Perspektive ein, in der jeder Mensch als gleichwertiges Subjekt mit moralischen Ansprüchen gesehen wird und weder Personen noch bestimmte Gruppen ausgegrenzt werden dürfen.

Monika Keller (2005). Moralentwicklung und moralische Sozialisation. In: Detlef Horster, Jürgen Oelkers (Hrsg.) Pädagogik und Ethik. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 150)
Grundlagenbeitrag auf Doing Geo & Ethics: Basics | 

Ferner diskutiert sie verschiedene Perspektiven auf das Verhältnis von Kognition und Emotion vor dem Hintergrund eines dichotomen Konzeptes der beiden Aspekte:

Im Zentrum von Kohlbergs Theorie stehen nicht mehr moralische Gefühle, sondern moralisches Denken. Moralische Urteile sind Begründungen dafür, warum bestimmte Handlungen moralisch richtig sind, warum in bestimmten Situationen bestimmten Gründen der Vorzug gegeben werden muss und warum bestimmte Gründe für alle Personen gleichermaßen Geltung haben. Die Theorie befasst sich mit der Frage, wie der Mensch im Verlauf der Entwicklung die Fähigkeit zur moralischen Begründung entwickelt und wie moralische Autonomie entsteht, die nicht nur Regel-Befolgung, sondern eine kritische Reflexion der Regeln erlaubt. Ein solches Konzept von moralischer Autonomie ist bereits in Piagets Arbeiten angelegt.

ebd.

Kritik an Kohlbergs Konzeption moralischer Stufenentwicklung

Monika Keller gibt ebenfalls einen Überblick zu zentralen Kritikpunkten an der Theorie Kohlbergs, bei denen es vor allem um die Frage geht, welche Rolle Emotionen spielen, u.a. moralische Gefühle wie Schuld, Scham und Empörung. Sie stellt zwei Kritiklinien heraus:

  1. Kritik an der Vernachlässigung der Motivation zum moralischen Urteilen und Handeln: Kohlbergs „kognitivistische“ Annahme, dass höhere Entwicklungsstufen mit moralischer Motivation im Sinne einer größeren Konsistenz zwischen moralischen Urteil und Handeln einhergehen, lasse sich nicht halten.
  2. Kritik an der Vernachlässigung von Empathie und Fürsorge bei der Entwicklung moralischer Fähigkeiten und Haltungen: Die zentrale Frage der moralischen Entwicklung sei die Frage nach der Motivation moralischen Handelns und dem Prozess, der Personen befähigt, die Belange anderer nicht nur kognitiv, sondern auch motivational einzubeziehen und zu leiden, wenn ihnen das nicht gelingt.

In diesem Zusammenhang entspinnt sich auch eine feministische Kritik an Kohlbergs Konzeption des Gerechtigkeitsurteils, der die Psychologin Carol Gilligan eine weibliche Fürsorgemoral entgegenstellt:

Schließlich nimmt Monika Keller eine handlungstheoretische Rekonzeptualisierung von Kohlbergs Theorie dar, in der Kognition und Emotion berücksichtigt sind und belegt diese Theorie empirisch anhand von eigenen kulturvergleichenden Längsschnitt- und Querschnittuntersuchungen, die zu einer Revision von Kohlbergs präkonventionellen Stufe I führen:

Die Ergebnisse unserer Studien führten zu einer Revision der beiden Entwicklungsstufen der präkonventionellen Moral in Kohlbergs Theorie. In den Argumentationen zum moralischen Urteil von sieben- und neunjährigen Kindern zeigte sich, dass auf Stufe 1 die Furcht vor Strafe keine – oder zumindest keine zentrale – Rolle in moralischen Argumentationen von Kindern spielt. Das Denken auf Stufe 2 kann auch nicht ausschließlich als instrumentell-strategisch bezeichnet werden, denn bereits jüngere Kinder nennen empathische und freundschaftsbezogene Gründe sowohl in der praktischen Entscheidung als auch im moralischen Urteil. […] Aus diesen Ergebnissen lässt sich folgern, dass die frühen Stufen der moralischen Entwicklung in Kohlbergs Theorie theoretisch unzulänglich definiert sind, da sie genuin moralische und prosozial-empathische Emotionen nicht zulassen (vgl. Keller 1990, 1996). Dies entspricht anderen Forschungen außerhalb der Kohlberg-Tradition, in denen ebenso wie in unseren Arbeiten zunehmend deutlicher wurde, dass das moralische Denken jüngerer Kinder nicht nur durch Autoritätshörigkeit oder strategisch-instrumentellen Austausch charakterisiert werden kann.

ebd.

Die Bedeutung sozialer Erfahrungen für die moralische Entwicklung

Abschließend skizziert sie förderliche Bedingungen des moralischen Lernens in den sozialen Kontexten Familie, Peer-Gruppe und Schule. Moralische Sensibilität entsteht nach Keller „in sozialen Beziehungen, in denen das Kind sich mit den Wünschen, Erwartungen und Gefühlen von Selbst und anderen und mit den Regeln, die in diesen Interaktionen Geltung haben, auseinandersetzt.“ (ebd., 153) Hierbei gehe es vor allem um Interaktionen mit bedeutsamen Anderen innerhalb verschiedener sozialer Kontexte:

Eine zentrale Bedeutung kommt zunächst der Eltern-Kind-Beziehung zu, in der die frühesten Erfahrungen moralischer Sozialisation stattfinden. […] Explizite und implizite Sozialisation, Kognition und Emotion bilden das moralische Klima einer Beziehung. Wenn Prozesse moralischer Sensibilisierung in der Familie nicht stattfinden oder die moralischen Grunderfahrung fehlt, als Person akzeptiert und respektiert zu werden, kommt es zu Schwierigkeiten in der moralischen Entwicklung, und zwar vor allem zu einer Desintegration von Kognition und Affekt. […| In Übereinstimmung mit Piagets (1932/1973) Annahmen zeigen auch die Ergebnisse neuerer Forschungen, dass den Erfahrungen in der Gruppe der Gleichaltrigen eine besondere Bedeutung für die moralische Entwicklung zukommt (vgl. Krappmann 1994). Einerseits kann in der Gruppe der im Prinzip Gleichgestellten die Geltung moralischer Regeln in anderer Weise ausgehandelt werden als in Autoritätsbeziehungen. Andererseits kommt im Entwicklungsprozess insbesondere den Freundschaftserfahrungen eine besondere Bedeutung für die Moralentwicklung zu (Keller 1986, 1996; Youniss 1980, 1984). Neben dem Erlernen des Aushandelns von Regeln mit Gleichgestellten ist die Erfahrungen von Intimität und Nähe eine wesentliche Bedingung für die Entwicklung sozialer Reziprozität (Sullivan 1980).[…] Der Schule kommt eine wesentliche Funktion in der moralischen Sozialisation zu, obwohl sie sich – insbesondere in westlichen Gesellschaften – dieser Aufgabe nicht hinreichend bewusst ist. Auch hier geht es einerseits um explizite Sozialisationsprozesse und andererseits um die impliziten Erfahrungen dessen, wie Schüler sich als Person durch Gleichaltrige und Lehrer behandelt fühlen. Das kennzeichnet das moralische Klima einer Schule (vgl. Edelstein/Oser/Schuster 2001). Untersuchungen zeigen, dass moralrelevante Erfahrungen des Alltagslebens im Erleben von Konflikten und Ungerechtigkeiten in der Schule bestehen.

ebd.

Unterrichtseinsatz: Förderung der moralischen Sensibilität für eine Situation und der moralischen Urteilsfähigkeit

Monika Kellers Forschung belegt eindrucksvoll die Bedeutung, die der Reflexion moralischer Fragen in pädagogischen Kontexten zukommt – und auch der Gestaltung der moralischen Atmosphäre pädagogischer Arbeitsverhältnisse. Hierbei ist u.a. die Arbeit mit Dilemmasituationen relevant, um zum einen Möglichkeiten konstruktiver diskursiver Auseinandersetzung zu schaffen, eine Differenzierung moralrelevanter Kompetenzen anzustreben und eine Sensibilisierung für das Erkennen von Situationen, in denen das Einbeziehen von ethischen Werten relevant ist, zu erzeugen. Ergänzt werden könnte das Vermitteln von Kenntnissen zu ethischen Werten und Sicherheit mit Umgang mit philosophischen Argumentationsfiguren einzelner ethischer Konzepte anzustreben (vgl. Abb. Applis 2018).

Basics | Monika Keller: Moralentwicklung und moralische Sozialisation (2)

Die Auseinandersetzung mit Forschungsergebnissen zur Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit und der Fähigkeit zur sozialen Perspektivübernahme bildet für Lehrkräfte die Voraussetzung dafür, entsprechende Unterrichtsmaterialien zu erstellen, deren Einsatz kompetent zu begleiten und selbst eine Sensibilität für moralrelevante pädagogische Situationen zu entwickeln.

Beispiele für Dilemmata im Feld der angewandten Ethik zum Unterrichtseinsatz im Geographie-, Ethik-, Politik- und Deutschunterricht

Monika Keller verwendet in ihren eigenen Untersuchungen einen erfahrungsnahen moralrelevanten Konflikt in einer engen Freundschaft ; je nach dem Geschlecht der Proband*innen wurden weibliche bzw. männliche Akteure vorgegeben. Im folgenden wird die Variante für Probandinnen dargestellt:

Die Protagonistin der Geschichte hat der besten Freundin versprochen, sie zu besuchen. Etwas später erhält sie für eben diesen Zeitpunkt von einem weiteren Kind die Einladung zu einem Film mit anschließender Einladung zu Pizza und Cola bzw. bei älteren Probanden, ein Popkonzert zu besuchen. Verschiedene Gesichtspunkte komplizieren die Situation: Die Freundinnen kennen sich schon lange, die Einladung durch das dritte Kind gilt für den Tag, an dem sich die Freundinnen immer treffen, und die Freundin mag das neue Kind nicht. Die Freundin möchte ihr neue Sachen zeigen, aber sie möchte auch mit ihr über ein Problem reden, das sie ernsthaft beschäftigt. Das dritte Kind ist neu hinzugezogen und hat noch keine Freunde.

Monika Keller (1996). Moralische Sensibilität. Entwicklung in Freundschaft und Familie. Beltz, S. 114.

In dem Konflikt werden hedonistische Eigeninteressen sowie interpersonale und moralische Normen thematisiert:

  • hedonistische Eigeninteressen sind sowohl auf das Angebot des neuen Kindes bezogen (einen interessanten Film zu sehen/ein Popkonzert zu besuchen, Wür-stchen bzw. Pizza angeboten zu bekommen) als auch auf die Freundin (mit interessantem Spielzeug zu spielen/eine neue Platte/interessante Neuigkeiten zu hören);
  • die formal moralische Verpflichtung bezieht sich auf das Versprechen bzw. die Verabredung mit der Freundin;
  • interpersonale Verantwortungen beziehen sich auf die enge Freundschaft (der spezielle Tag, an dem sich die Freundinnen immer treffen, die spezielle Gefühlslage der Freundin und die Probleme, die sie besprechen möchte);
  • altruistische Verpflichtungen bzw. Verantwortungen beziehen sich auf das neu hinzugezogene Kind (einem neuen Kind zu helfen, das allein ist und niemanden kennt).

Für den unterrichtlichen Einsatz können die Interviewleitfragen genutzt werden, um das gegeben Dilemma entweder zu diskutieren oder im fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch zu reflektieren

(1) Die spontane Definition des Problems. – Was ist das Problem in dieser Geschichte und warum?

(2) Die Reflexion der Entscheidung unter praktischen und moralischen Gesichtspunkten.

  • Die Reflexion der praktischen Handlungsentscheidung. – Wie entscheidet sich die Protagonistin und warum trifft sie diese Entscheidung?
  • Die Reflexion der alternativen Handlungsoption. – Hätte die Protagonistin sich auch gern für x (nichtgewählte Handlungsalternative) entschieden? Warum?
  • Die Reflexion der praktischen Entscheidung unter moralischem Gesichtspunkt (moralische Bewertung). – Ist die Entscheidung richtig? Warum ist sie richtig bzw. nicht richtig?

(3) Die Reflexion der Folgen der praktischen Handlungsentscheidung. Die Folgen werden im Hinblick auf beide Handlungsoptionen rekonstruiert (die gewählte und die nichtgewählte), wobei die Rekonstruktion der Folgen der Verletzung von Verpflichtungen und Verantwortungen gegenüber dem Freund besonderes Gewicht hatte.

  • Folgen aus der Perspektive der Protagonistin. (a) Im Falle der Entscheidung, zum neuen Kind zu gehen – Was denkt/wie fühlt sich die Protagonistin, wenn sie sich entschieden hat/wenn sie im Kino sitzt? Warum? – Wie hätte sie sich gefühlt, wenn sie zur Freundin gegangen wäre? Warum? (b) Im Falle der Ent-scheidung, zur Freundin zu gehen – Was denkt/fühlt die Protagonistin, wenn sie die Freundin trifft? Warum? – Wie hätte sie sich gefühlt, wenn sie ins Kino gegangen wäre? Warum?
  • Folgen aus der Perspektive der Freundin. – Was denkt/wie fühlt sich die Freun-din, wenn die Protagonistin zu ihr kommt? Warum? – Was hätte die Freundin gedacht/gefühlt, wenn sie nicht zu ihr gekommen wäre? Warum? –
  • Findet die Freundin es richtig, wenn die Protagonistin kommt/nicht kommt? Warum bzw. warum nicht? Folgen für die Freundschaftsbeziehung. – Hat die Entscheidung Folgen für die Freundschaft? Warum bzw. warum nicht?

(4) Strategien der Konfliktlösung.

  • Verhandlungsstrategien gegenüber der Freundin. (a) Im Falle der Entscheidung für das Kino stellt sich die Frage, ob und wie die Freundin informiert wird. –Sagt die Protagonistin der Freundin die Wahrheit? Sagt sie vorher oder erst danach Bescheid? Was sagt sie? Warum? (b) Im Falle der Entscheidung für die Freundin wird die Verhandlungs- bzw. Rechtfertigungssituation hypothetisch
  • vorgegeben. Wenn die Protagonistin den Sachverhalt verschweigen will, wird vom Interviewer im Sinne eines Rollenspiels ein Kontext vorgegeben: – Was sagt die Protagonistin der Freundin, wenn diese fragt, warum sie nicht gekom-men ist? – Was hätte sie gesagt, wenn die Freundin gesagt hätte: Aber du hast doch versprochen zu kommen?
  • Strategien gegenüber dem neuen Kind. – Was würde die Protagonistin dem neuen Kind sagen, wenn sie nicht mit ihr geht? – Wie würde sie sich fühlen? –Kann das neue Kind das verstehen?

(5) Wiedergutmachungsstrategien zur Behebung von Folgen. – Wird die Protagonistin etwas Besonderes für die Freundin bzw. für das neue Kind tun? Was? Warum? –Was kann die Protagonistin dafür tun, damit alle drei Freundinnen werden?

Ein weiteres Dilemma ist ein Autoritätsdilemma in einer Mutter-Tochter-Konstellation, in das zusätzlich eine Geschwisterverhältnis eingearbeitet ist:

Eine Mutter hat ihrer Tochter versprochen, daß diese ihr selbstverdientes Geld für ein Popkonzert ausgeben kann. Als die Mutter das Geld dennoch von der Tochter für notwendige Anschaffungen einfordert, belügt die Tochter sie über den Geldbetrag, den sie verdient hat, und geht trotzdem ins Konzert. Nun ereignet es sich, dass die Schwester des Mädchens, während diese auf dem Konzert ist, von der Mutter gefragt wird, wo die Tochter (bzw. Schwester) sei; diese steht nun vor der Frage steht, ob sie die Mutter wahrheitsgemäß informieren soll oder ob sie schweigen bzw. lügen soll, um die Loyalität gegenüber der Schwester zu wahren.

Monika Keller (1996). Moralische Sensibilität. Entwicklung in Freundschaft und Familie. Beltz, S. 115f.

In diesem Szenario stehen die folgenden Normen im Konflikt miteinander:

  • die Autoritätsnorm (Gehorsam und Respekt in Autoritätsbeziehungen),
  • die Versprechensnorm (das Versprechen der Mutter gegenüber der Tochter). Darüber hinaus werden in dem Konflikt jedoch zwei weitere moralrelevante Normen angesprochen:
  • die Eigentumsnorm (Rechte und Pflichten im Umgang mit selbstverdientem Geld),
  • interpersonale Verpflichtungen in der Geschwisterbeziehung (Solidarität und Loyalität zwischen Geschwistern).

Wiederum können für den unterrichtlichen Einsatz die Interviewleitfragen genutzt werden, um das gegeben Dilemma entweder zu diskutieren oder im fragend-entwickelnde Unterrichtsgespräch zu reflektieren:

(1) Begründung des moralischen Urteils. – Was ist die richtige Entscheidung in dieser Situation? Warum?

(2) Begründung der Urteilsalternative. – Wäre x (die Urteilsalternative) auch richtig gewesen? Warum?

(3) Bedeutung des Versprechens in der Situation. – Ist das Versprechen der Mutter wichtig in dieser Situation? Warum?

(4) Bedeutung der Eigentumsnorm in der Situation. – Ist es wichtig, daß die Protagonistin das Geld selbst verdient hat? Warum?

(5) Folgen der Entscheidung für die Familie. – Welche Folgen ergeben sich für die Familie aus der Entscheidung? Warum?

Für den unterrichtlichen Einsatz empfiehlt sich eine Darbietung solcher Dilemmasituationen in einer Weise, die Perspektivübernahme und Empathie unterstützt; der didaktische Ort innerhalb einer Unterrichtseinheit hängt ab davon, wie weitere Inhalte behandelt werden sollen, z.B. als Einstieg, um theoretische Themenfelder zu eröffnen oder als Abschluss einer Unterrichtseinheit, um die zuvor behandelten Inhalte zusammenzubringen und zu evaluieren:

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Text: Stefan Applis (2023)

Bild: Bild von Freepik

Weitere ausgewählte Publikationen

  • Keller, M. (2015). The development of intersubjectivity: cognitive and affective aspects in sociomoral development. In Psaltis, C., Gillespie, A. & A. N. Perret-Clermont (Eds), Social relations in human and societal development (pp. 32–50). Palgrave Macmillan: London, UK.
  • Keller, M. & Malti, T. (2015). Sozialisation sozio-moralischer Kompetenzen. In K. Hurrelmann, U. Bauer, M. Grundmann & S. Walper (Hrsg.). Handbuch Sozialisationsforschung (8.Aufl., S. 673–689). Weinheim: Beltz.
  • Keller, M., Gummerum, M., Canz, T., Gigerenzer, G., & Takezawa, M. (2013). The Is and Ought of sharing: The equality heuristic across the lifespan. In R. Hertwig, U., Hoffrage, & the ABC Research Group, Simple heuristics in a social world (pp. 171–195). New York, NY: Oxford University Press.
  • Keller, M., & Krettenauer, T. (2007). Moralentwicklung im Kulturvergleich. In G. Trommsdorf & H.-J. Kornadt (Hrsg.), Enzyklopädie der Psychologie: Bd. C, VII, 2. Erleben und Handeln im kulturellen Kontext (S. 521–555). Göttingen: Hogrefe.
  • Keller, M. (2006). The development of obligations and responsibilities in cultural context. In L. Smith & J. Vonèche (Eds.), Norms in human development (pp. 169–188). Cambridge: Cambridge University Press.
  • Keller, M., Gummerum, M., Wang, X. T., & Lindsey, S. (2004). Understanding perspectives and emotions in contract violation: Development of deontic and moral reasoning. Child Development, 75(2), 1–22.
  • Keller, M. (1996). Moralische Sensibilität: Entwicklung in Freundschaft und Familie. Weinheim: Beltz/PVU.
  • Keller, M., & Edelstein, W. (1991). The development of socio-moral meaning making: Domains, categories and perspective-taking. In W. M. Kurtines & J. L. Gewirtz (Eds.), Handbook of moral behavior and development: Vol. 2. Research (pp. 89–114). Hillsdale, NJ: Erlbaum.
  • Keller, M. (1976). Kognitive Entwicklung und soziale Kompetenz. Stuttgart: Klett (Konzepte der Humanwissenschaft).
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Author: Rev. Porsche Oberbrunner

Last Updated: 03/06/2023

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